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Wildtiere und ihre Fluchtdistanz

Wildtiere Fluchtdistanz - Hirsche fliehen

Jeder, der sich mit seiner Kamera einem freilebenden Wildtier nähert, weiß, dass sein Objekt bei Wahrnehmung der „Gefahr“ auf eine bestimmte Distanz zunächst beunruhigt reagiert und bei noch stärkerer Annäherung schließlich flüchtet. Dabei kann der eingeschlagene Fluchtweg zu einem Fluchtziel führen wie beim Fuchs, der möglichst rasch in seinen Bau einfährt. Er kann aber auch ungerichtet sein , wie bei dem aus seiner Sasse hochgemachten Feldhasen, der in erster Linie danach strebt, eine große Distanz zwischen sich und den Störfaktor zu bringen.
Fuchs duckt sich im Schnee

Der artspezifische Fluchtabstand, die sogenannte Fluchtdistanz, erfüllt als natürliche Form der Arterhaltung eine wichtige biologische Funktion. Für den Tierfotografen kommt es darauf an, die naturgegebene Fluchtdistanz möglichst gering zu halten oder den Fluchtabstand auf geschickte Weise außer Kraft zu setzen. Dazu wurden bis heute eine Vielzahl geeigneter Methoden entwickelt. Bei fast jeder Tierart ist irgendein Sinn weniger gut ausgeprägt, und darauf konzentrieren sich alle Mittel der fotografischen Überlistung. Professor Hediger, ehemaliger Zoodirektor von Basel, hat jene Termini – Fluchtdistanz, Individualdistanz und kritische Distanz – die heute noch zoologisches Allgemeingut sind, in seiner „Biologie und Psychologie der Flucht bei Tieren“ zuerst entwickelt und beschrieben. Dabei ist interessant, dass die Fluchtdistanz nicht nur von Art zu Art, sondern auch von Individuum zu Individuum der gleichen Art sehr verschieden sein kann. Ausserdem hängt der Fluchtabstand noch von einer Reihe anderer biologischer Gegebenheiten ab.
Tierfotograf bei der Arbeit mit der Kamera

Größere Tiere haben meist eine größere Fluchtdistanz, aber auch bei Männchen und Weibchen ist sie je nach Jahreszeit oder dem jeweiligen Stand des Fortpflanzungsgeschäftes größer oder kleiner. Bei Vögeln kann sehr entscheidend sein, ob das Gelege vollständig ist oder bereits Junge geschlüpft sind. Manche Vögel weichen bei Störungen nur um die Entfernung ihrer arteigenen Fluchtdistanz zurück. Andere jedoch verlassen Nest und Gelege auf sehr große Entfernung, um abzuwarten. Einige Brutvögel sind oft schon durch geringfügige Störungen zu vergrämen, das heißt, sie verlieren rasch die Verbindung zum Gelege. Grundsätzlich gilt, je weniger Raubtiere ein Biotop beherbergt, desto vertrauter sind die anderen Tierarten.
Beispiel europäische Raubtiere - Der Wolf

Auch Gewohnheiten spielen bezüglich der Fluchtdistanz in manchen Gegenden eine bedeutende Rolle. So ist es ein großer Unterschied, ob man eine bestimmte Vogelart in einem ungestörten, intakten Biotop – oder in einem viel besuchten Stadtpark fotografieren möchte. Insbesondere in der Großstadt gibt es unter den Vögeln viele „Kulturfolger“, die sich dem Menschen relativ eng anschließen. Zu ihnen gehören Stare, Amseln, Ringeltauben, Kohl- und Blaumeisen, Buch- und Grünfinke, Rotschwänze, Kleiber, aber auch Schwäne, Bleßhühner, Stockenten, Haubentaucher, Lachmöwen, und unter den Säugetieren hauptsächlich das Eichhörnchen. Oft dienen dabei einzelne Tiere, die gute Erfahrungen machten, als „Lehrmeister“ für andere Artgenossen.
Amsel sitzt auf Zweig - kleiner heimischer schwarzer Vogel mit orangenfarbenem Schnabel

Vor allem in stark frequentierten Parks oder an Teichen, wo Wildtiere gelegentlich von Besuchern gefüttert werden, bildet sich nicht selten ein hoher Grad an Vertrautheit heraus, während sich die gleichen Individuen außerhalb dieser Plätze ganz anders verhalten. Steiniger bezeichnete diese oft zu beobachtende Erscheinung als „örtliche Tradition“. Hierzu zählt er auch das besonders vertraute Verhalten des Weißstorchs im unmittelbaren Bereich seiner Horststätte, wo er „seine“ Menschen, mit denen er täglich Umgang pflegt, genau kennt, während er fremden Besuchern häufig mit größtem Argwohn begegnet. Ebenso zeigen viele Teichvögel gegenüber den täglich zur gewohnten Stunde auftauchenden Futterkähnen der Fischer weniger Scheu, wogegen ein fremdes Boot für sie eine ungewöhnliche Erscheinung darstellt, zu dem sie eine entsprechend große Fluchtdistanz einhalten. Im Unterschied zu dieser natürlichen und meist nur örtlich bedingten Vertrautheit haben manche Wildtiere eine noch weit engere Bindung an den Menschen. Zwar trägt jedes Wildtier von Geburt an ein bestimmtes Schema seiner natürlichen Feinde in sich, auf die es instinktiv reagiert, dennoch können viele erfolgreich umgestellt werden. Diese Phänomen der Prägung, des Lernens durch Nachahmung in bestimmten sensiblen Lebensphasen, hatte Konrad Lorenz eingehend untersucht.
Seehunde liegen am Sandstrand

Wird ein Wildtier dahingehend geprägt, die ihm angeborene Fluchtdistanz dem Menschen gegenüber vollständig aufzugeben, so bezeichnen wir es als zahm. Frischgeschlüpfte Nestflüchter-Küken oder sehr junge Säugetiere – vor allem, wenn sie noch nicht sehen können – lassen sich verhältnismäßig leicht auf den Menschen oder auf andere Art-Eltern prägen, die im Extremfall sogar zu ihren natürlichen biologischen Feinden zählen können. Einige Tierfotografen und hauptsächlich viele Tierfilmer sind deshalb dazu übergegangen, zahme Wildtiere in Fotogehegen aufzunehmen, in denen ihr natürliches Biotop sorgfältig nachgebaut wurde. Die Mehrzahl der erfolgreichsten Tierfilmer geht auf diese relativ einfach Methode zurück, ohne dass es die Produzenten gerne zugeben. Gewiss ist auch einigen Arten tierfotografisch kaum anders beizukommen, wenn man beispielsweise an die Verhaltensweisen von Fuchs oder Dachs im Erdbau denkt. Dennoch bleibt diese Methode höchst problematisch und sollte nur als Notlösung dienen, wenn alle anderen Mittel versagen. Denn zahme Tiere haben stets einen mehr oder weniger großen Teil ihrer arterhaltenden und arttypischen Eigenschaften abgelegt und ihr Gehegeverhalten liefert zumindest für die Tierforschung oft verzerrte Resultate, die in der fotografischen Umsetzung nicht selten zu Fehlschlüssen verleiten.
Zahme Tiere - Eichhörnchen frisst Eichel aus Menschenhand

Im Unterschied zur Fluchtdistanz bezeichnet die Individualdistanz die zwischen den einzelnen Artgenossen untereinander eingehaltene Entfernung, die sich gleichfalls in bestimmten Perioden verändern kann. Bei gesellig lebenden Tieren, auch bei Schlafgesellschaften oder auf herbstlichen Sammelplätzen der Zugvöögel, ist die Individualdistanz sehr gering – bei Einzelgängern hingegen sehr groß. Einige davon, wie Luchs, Dachs, Hamster oder Eichhörnchen, verringern ihre Individualdistanz nur während der geschlechtlichen Aktivität. Solche Einzelgänger verteidigen meist hartnäckig ihr Territorium und man kann sie herzu mit verschiedenen Methoden vor die Kamera locken. Gelegentlich gelingt es auch mit großer Geduld, Wildtiere in ihrem Lebensraum zu zähmen oder einen direkten Kontakt zu ihnen aufzubauen, ohne sie ihrer natürlichen Freiheit zu berauben. Dies ist dann erreicht, wenn man vom Wildtier ohne Tarnung in unmittelbarer Nähe – also an der Grenze seiner Individualdistanz – geduldet wird oder sogar in direkte Beziehung zu ihm tritt.
Junges zutrauliches Eichhörnschen

Bengt Berg beschreibt in seinem Buch „Mein Freund der Regenpfeifer“ solch einen direkten Kontakt zum Mornellregenpfeifer. Dem Autor als Fotografen ist ein ebensolches Vertrauensverhältnis zu einem Storchenpaar in den ungarischen Donauauen gelungen. Nach wochenlanger Angewöhnung bildete er, unmittelbar neben dem Nest sitzend, keine Störung mehr, und die freifliegenden Jungstörche landeten sogar auf seinen Schultern. In jüngerer Zeit glückte es Heinz Meynhardt und Richard Finke unabhängig voneinander mit Schwarzwild. Ganz besonders innig und für die Forschung von großer Bedeutung waren die Kontakte zwischen Jane Goodall und einer kleinen Schimpansenhorde im heutigen Gombe-Nationalpark in Tansania sowie jene von Dian Fossey zu einer Gruppe von Berggorillas im Nationalpark der Vulkane im zentralafrikanischen Rwanda.
Schimpansen in der Horde bei der sozialen Pflegen

Unter solchen Bedingungen lassen sich nicht nur bildmäßig die besten Ergebnisse erzielen, sondern auch viele wertvolle Beobachtungen sammeln. Im allgemeinen jedoch muss sich der Tierfotograf mit indirekten Kontakten begnügen und aus einer Tarnung heraus unbemerkt fotografieren. Auch bleibt der direkte Kontakt stets individuell bedingt. Zahmheit wird in freier Wildbahn meist nur bei einem einzelnen Tier erreicht, in differenzierter Weise allenfalls bei einer kleinen sozialen Gemeinschaft, einem Familienverband oder einer Rotte. Dagegen ist jenes Verhalten, das wir mit dem Begriff Pseudozahmheit definieren, häufig einer ganzen Art zu eigen. Als pseudozahm bezeichnet man die höchst ungewöhnliche Vertrautheit vieler Vogelarten (Pinguine, Möwenvögel, Limikolen) und einer Reihe von Säugetieren (Walrosse, Seelöwen, Seehunde) in den menschenleeren Polar- oder Tundrengebieten unserer Erde, die – ohne erst gezähmt werden zu müssen – dort gegenüber dem Menschen so gut wie keine Fluchtreaktion zeigen, weil sie ihn nicht als Feind betrachten. Im Gegenteil, viele kommen sogar herbei, um das unbekannte Wesen näher zu begutachten.
Seehunde liegen am Sandstrand


Ihr ausgeprägtes Geselligkeitsbedürfnis als Herdentiere oder Koloniebrüter fördert dieses Verhalten. Die Pseudozahmheit gestattet es, Aufnahmen aus kürzester Entfernung zu machen. So gehört es beispielsweise in Lappland schon zu den traditionellen Gepflogenheiten, sich neben einem brütenden Mornellregenpfeifer fotografieren zu lassen. Einige der pseudozahmen Vögel, die sich als Wintergäste aus dem hohen Norden zeitweilig bei uns aufhalten, halten auch in unseren Breiten häufig nur einen erstaunlich geringen Fluchtabstand ein. Nur solche Individuen, die schon schlechte Erfahrungen gemacht haben, sind wesentlich vorsichtiger und halten größere Distanz.
Mornellregenpfeifer sitzt auf Felsen